Yangon: Der Wahnsinn um den Ort der inneren Einkehr

Shwedagon Pagode, Yangon

Aus dem Archiv: Hiermit möchte ich beginnen, alle Geschichten herauszuholen aus einem Land, das mich sehr in seinen Bann gezogen hat: Myanmar. Es geht los in Yangon.

„Das hier ist Burma, ein Land, dass anders ist als alle, die Du kennst“, schrieb Rudyard Kipling 1898. Gehen heute zwar viele davon aus, dass Kipling nie selbst einen Fuss ins heutige Myanmar gesetzt hat, hätte er mit seiner Beschreibung richtiger jedoch kaum liegen können.

Ein kurzer Flug von Bangkok hat mich im Morgengrauen nach Yangon gebracht, bis vor ein paar Jahren Hauptstadt von Myanmar, dass man frueher unter dem Namen Burma kannte. Ich lasse mich von meinem netten Taxifahrer ins Zentrum der 4,5-Millionen-Stadt bringen und bestaune das ameisengleiche Gewusel auf den Strassen aus den offenen Fenstern. Vorbei die Zeiten klimatisierter Taxis, der Fahrtwind muss hier für die Kühlung genügen. In meinem Guesthouse steht die komplette 14-köpfige Belegschaft an der Rezeption Spalier, um mich willkommen zu heissen, und ich versichere mich zunächst einmal, ob ich den Übernachtungspreis richtig verstanden habe. Nur ein paar Minuten später sitze ich bereits bei einem sehr süssen milchigen Tee und einem länglichen Schmalzgebäck inmitten einer unvergleichlichen Kulisse.

Yangon: Kolonialgebäude in Yangon
Kolonialgebäude in Yangon

Die Teehäuser an jeder Ecke sind allesamt mit winzigen bunten Plastikstühlchen für ihre Kunden ausgestattet, die mehr oder weniger mitten auf der Strasse stehen. Der Boden ist an vielen Stellen rötlich verfärbt vom ständigen Ausspucken der betelverliebten Burmesen. In den dunklen Eingängen der Häuser köchelt der Tee in grossen Metalltöpfen auf Holzkohlefeuern. Verkäufer preisen lauthals und in der immer gleichen Intonation schreiend ihre Waren an, während sie durch die Gassen voller Häuser im Kolonialstil schlurfen. Ist jemand interessiert, lässt er von seinem Balkon etwas Geld an einer Kordel herunter, an welcher im Gegenzug die gewünschte Ware sodann nach oben befördert wird.

Die Nebenstrassen in Yangon haben keine Bürgersteige, alle Menschen laufen auf der Strasse. Kommt ein Auto, hupt es kurz – man möchte fast sagen rücksichtsvoll – und der Tross Menschen weicht mal eben in eine Parklücke aus, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Insgesamt wirkt der Verkehr wie ein komplexes organisches Gebilde, dass keinen grossen Regeln zu folgen scheint.

Alles ist alt und kaputt: Von den Häusern blättert der bunte Putz, die Balkone scheinen oft nur noch von einem heiligen Haar gehalten wie der goldene Felsen von Kyaikhtiyo, die trotz Rechtsverkehrs zumeist rechtsgelenkten Autos pfeifen lautstark auf dem letzten Loch, die Strassen sind nurmehr ein Flickenteppich aus Löchern und unebenen Betonplatten. Vom Zahn der Zeit angefressene koloniale Prachtbauten künden vom einstmals luxuriösen Ambiente der Stadt. Nur die Menschen sehen fast alle aus wie aus dem Ei gepellt. Sie sind deutlich dunkler als in Thailand, viele sind Nachkommen der grossen indischen Bevölkerung unter englischer Kolonialherrschaft. Fast alle Männer tragen Longhyis, Wickelröcke wie in Indien. Und sie lächeln einen unverhohlen und voller Faszination an, in der Regel ohne damit einen Hintergedanken zu verfolgen. Viele Leute telefonieren, wobei sie beim Sprechen das Telefon stets an den Mund halten wie ein Funkgerät, um es dann ans Ohr zu führen, um die Antwort verstehen zu können. Die Geräuschkulisse in dieser Stadt ist genauso extrem wie die Hitze und der Überfluss an Eindrücken, die dem Auge geboten werden. Jede Beschreibung einer hier ganz gewöhnlichen Straßenszene kann nur im Ansatz das wiedergeben, was man empfindet, wenn man persönlich mittendrin steht.

Yangon: Sule Pagode
Sule Pagode, Yangon

Die Bewohner Yangons gehen Berufen nach, die es in dieser Art bei uns nicht gibt. So steht in Yangon etwa alle 3 Meter ein Stand, an dem jemand seine Waren feilbietet. Obst, Frittiertes, Haushaltsgegenstände, Schuhe, Zigaretten, Betel, Viagra, … . In winzigen Nischen zwischen zwei windschiefen Gebäuden verkauft man Medikamente, direkt nebenan sitzen Frauen mit drei Telefonen auf einem Campingtisch, von dem aus ein Kabel in den Bäumen der Allee verschwindet. Diese Telefonzentralen ersetzen die Telefonzelle. In den Strassen scheinen die einzelnen Berufsgruppen jeweils thematisch zusammengefasst zu sein. So laufe ich beispielsweise durch eine Strasse, in der Leute ausschliesslich damit beschäftigt sind, Hausnummern und Firmenschilder herzustellen, wohlgemerkt per Hand und Laubsäge.

Yangon: Ein Mönch läuft vor der Botataung-Pagode
Ein Mönch vor der Botataung-Pagode

Vor nahezu jedem Geschäft in Yangon steht ein grosser, lärmender Generator, da die Hauptstromversorgung im Stundentakt ausfällt, und ohnehin nur zu bestimmten Stunden gewährleistet ist. Der Hoteldirektor erklärt mir, dass sich der Stromverbrauch in den letzten 10 Jahren um das 80-fache erhöht hat! Ein Bedarf, den das Stromnetz schon lange nicht mehr decken kann. Und so improvisieren die Menschen einfach, wo sie nur können, wie ich es später noch so oft sehen werde.

Nur sehr selten begegnen mir in den Strassen und Gassen Chinatowns und rund um die Sule-Pagode Touristen, ja, so selten gar, dass man einander in solchen Momenten konspirativ grüsst; mit einem Gesichtsausdruck, der dem anderen klar macht, dass auch man selbst sich fühlt, als wäre man nicht ein Land weiter, sondern auf einen anderen Planeten geflogen worden.

Ich laufe in Richtung Fluss und kämpfe mir einen Weg durch den stinkenden, brüllenden Verkehr. Ich folge dem Beispiel der Einheimischen und gehe einfach immer dann, wenn sich eine Lücke im Verkehr auftut. Zebrastreifen sind reine Makulatur, Ampeln nicht mehr als Ratschläge, die man eher ungern annimmt.

Schnell lerne ich in der unerbärmlichen schwülen Hitze Uncle Khaing kennen, einen charismatischen alten Mann mit grauen Haaren, die er zu einem Zopf hochgesteckt trägt. Er ist Englischlehrer und City-Guide in Yangon, und er hat ein Notizbuch voller Empfehlungen ausländischer Touristen. Seine herzerweichende Freundlichkeit und sein astreines Englisch überzeugen mich, ihn für einen Tag als Führer durch diese verrückte Stadt zu buchen.

Yangon: Burmese vor Lichtern im nächtlichen Yangon

Im Laufe des Tages führt er mich zu verschiedenen ehemaligen Prachtbauten rund um die Sule-Pagode im Zentrum, so auch zum Strand Hotel Yangon, der zu Kolonialzeiten berühmtesten Absteige für die feine, weisse Oberschicht in ganz Südostasien. Von dort springen wir auf einen gerade anfahrenden überfüllten Menschentransporter und fahren zum Botataung-Tempel, an dem seinerzeit die 4 Haare Buddhas angeliefert worden sind, denen zu Ehren damals die Shwedagon-Pagode gebaut wurde. Nach ein paar Keksen aus Klebreis, einem Reispfannkuchen und einer nur so hinuntergestürzten Flasche Wasser ziehen wir weiter zur liegenden Buddha-Statue, einer etwa 40 Meter grossen goldenen Darstellung des Buddhas im Moment seiner Erleuchtung.

Yangon: Liegender Buddha in gold
Liegender Buddha, Yangon

Viel interessanter jedoch als die Sehenswürdigkeiten in Yangon finde ich die Informationen, die mir der Uncle – wie ich ihn nennen soll – zwischen den Stops einstreut, sowie die Einblicke in die burmesische Kultur, die er mir vermittelt. So etwa erklärt er mir, warum man in Yangon keine Mopeds zu Gesicht bekommt. Man hat diese vor ein paar Jahren schlichtweg per Gesetz verboten. Oder der Grund dafür, dass es kaum Strassenhunde gibt: Diese werden aufgrund der mit ihnen verbundenen Gefahren regelmässig vergiftet. Überall sieht man jedoch Leute sitzen, die in Pappkartons Welpen für Privatleute zum Kauf offerieren.

An einem Tempel bietet mir jemand an, ein paar Vögeln aus einem Käfig die Freiheit zu schenken, was in der Konsequenz Glück bringen soll. Ich kenne das jedoch bereits aus Thailand und weiss, dass die Vögel nach einer Viertelstunde bereits wieder zurück in ihrem Käfig sein werden. Khaing erklaert mir warum: Dem Futter dieser Vögel wird stets ein wenig Opium beigemischt. Es ist die Sucht, die sie in ihre Gefängnisse zurückfliegen lässt!

Der Onkel erklärt mir auch die höflichen Gepflogenheiten in Myanmar. Bei der Begrüssung fragt man sich immer zuerst nach der Gesundheit. Unmittelbar darauf erkundigt man sich, ob der Gesprächspartner denn schon gegessen hat. Sollte das nicht der Fall sein, wird er umgehend und aufrichtig zum Essen eingeladen.

Khaing und ich gehen unsererseits essen bei seiner Lieblingsköchin in einer kleinen Garküche, die in der Nähe seiner Sprachschule in Chinatown liegt, und objektiv betrachtet nicht mehr als eine Höhle aus Beton ist. Gewissenhaft säubert er mein Geschirr vor dem Essen mit heissem Wasser. Ich wähle aus einer Vielzahl an Gerichten in alten, abgestossenen Töpfen einige aus, und alles schmeckt vorzüglich, auch wenn ich nicht sagen kann, was ich da gerade esse. Sollte ich, ohne es zu wissen, bereits den Salat gegessen haben, den man aus ein Jahr lang im Boden vergrabenem grünem Tee herstellt? Die Leute schauen mir aus grossen Augen beim Essen zu, auf der Strasse geht man unterdessen seinem Tagewerk nach. Der Platz in der Garküche bietet eine gern genommene Erholung vom Wahnsinn, der draußen auf der Strasse herrscht. Noch von drinnen hört man die brachialen Geräusche der uralten Maschinen, die Schreie der Verkäufer und Fahrradrikschafahrer, und das unablässige Dröhnen der Generatoren.
Nach dem Essen schlürfen wir zur Verdauung chinesischen grünen Tee, stets mit einem braunen Klumpen Palmzucker im Mund, der bei der Verdauung helfen soll.

Nach einem kurzen Schläfchen vor dem Ventilator im Hotelzimmer treffe ich den Uncle wieder. Es geht zum Sonnenuntergang ins größte Heiligtum des Landes, die atemberaubende Shwedagon-Pagode in Yangon. Von fast jeder Ecke der Stadt kann man den 100 Meter hohen Stupa der bombastischen Pagode bereits erspähen, der mit 10 Tonnen Gold verkleidet ist, und dessen Spitze verschiedene Edelsteine kroenen. Steht man aber dann direkt davor, inmitten der weitreichenden Tempelanlage auf 60.000 Quadratmeter, wird man plötzlich sehr ehrfürchtig.

Yangon: Shwedagon Pagode
Shwedagon Pagode

Fast drei Stunden dauert unser Rundgang und Khaing erklärt mir viele der Buddha-Darstellungen, Glocken, Tempel, sowie die Statuen, die unterschiedliche ‚Nats‘ verkörpern, Geister, die im Laufe der Jahrhunderte ihren Weg aus den Naturreligionen in den hiesigen Buddhismus gefunden haben. (Hier eine später erlebte, mysteriöse Geschichte im Zusammenhang mit Nats)

Immer wieder zerrt und zupft er mich in die richtige Position, damit ich die Rubine, Saphire und Diamanten in der untergehenden Sonne auf der Spitze des Stupa aufblitzen sehen kann. Sehr interessant finde ich hierbei, dass sowohl der Tsunami 2004 als auch der Wirbelsturm Nargis 2008 eine Verschiebung der Edelsteine bewirkt haben. Der Uncle erklärt mir, dass die besten Punkte zur Beobachtung davor an ganz anderen Stellen gelegen haben.

Yangon: menschen beten in der Shwedagon Pagode
Betende Menschen

Die Menschen, Einheimische wie Touristen, umkreisen den 100 Meter hohen Stupa drei mal im Uhrzeigersinn, verweilen an verschiedenen Stellen zum Beten und Meditieren, oder sitzen einfach nur auf den von der Sonne noch warmen Fliesen und geniessen die außergewöhnliche Atmosphäre dieses heiligen Ortes. Tatsächlich pilgern zu diesem Platz nicht nur Burmesen, sondern Buddhisten aus aller Herren Länder.

Yangon: Die Shwedagon Pagode bei Nacht
Shwedagon Pagode

Mit schmerzenden Füssen und einem dünnen Film aus Schmutz und Schweiss auf der Haut verabschiede ich mich am Abend erschöpft vom Uncle und ziehe mich in meine nach süßem Schimmel und Abwasser riechenden Gemächer zurück, um mich zunächst der Zerschlagung des Kakerlaken-Kartells zu widmen. Zwar hat der Onkel mir angeboten, mich am nächsten Tag noch zu einem Schamanen in Yangon zu führen, aber ich brauche erst mal eine Auszeit von der Überdosis an Informationen. Jedoch werde ich wohl am Ende meiner Reise auf sein zweites Angebot zurückkommen. Er will mir nämlich auch noch ein Kloster zeigen, in dem ein Mönch sitzt, der bereits vor 100 Jahren gestorben ist, aber gar nicht daran denkt zu verwesen. Interessanterweise steht dieser absurde Schauplatz schon seit Jahren auf meiner To-Do-Liste. Nur wusste ich nie, wo er denn eigentlich liegt… .

Ohne Strom gibt es im Hotel weder Klimaanlage noch Ventilator. Als ich anderntags aufwache, kann ich mich kaum an meinen Vornamen erinnern, so gerädert bin ich von der unnachgiebigen Hitze. Es ist, als hätte ich in einer finnischen Sauna übernachtet. Sofort verspüre ich den unerklärlichen, aber sehr starken Drang, Yangon ohne grosse Umschweife zu verlassen. Nachdem ich beim Geldwechseln bei den Edelsteinhändlern in der Markthalle noch gründlich übers Ohr gehauen werde und fast in einen Krater in der Straße gefallen bin, steht der Entschluss dann fest. Ich schnüre mein Bündel aus alten, mit Tesafilm zusammengehaltenen 1000-Kyat-Scheinen und wandere durch Chinatown zielstrebig runter zum Fluss, um in einem Bretterverschlag eine Kabine auf einem Boot in Richtung Golf von Bengalen zu buchen. Ich bin voller Vorfreude und genehmige mir vor der Abfahrt noch einen weiteren Milchtee, einen von vielen, die noch kommen werden.

Mehr von Marco Buch

Tansania Safari – Festgefahren neben einem Rudel Löwen

Er wird doch nicht?! Oh doch, wird er. Ich habe es befürchtet. Zögerlich arbeitet...
Weiterlesen

1 Kommentar

  • Sehr schön! Wir sind gerade in Yangon, waren in Chinatown, im Gewusel an der Shwedagon Pagode, haben die eine oder andere Ecke erwandert. Viel scheint sich seit deinem Besuch nicht verändert zu haben ☺ Yangon ist auch zum Ende von 2017 wahnsinnig interessant und wirkt recht kosmopolitisch.

Kommentar schreiben

Deine Email wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert