Stadt in der Stadt – Mumbais Slum Dharavi

Ich habe lange überlegt, ob ich mich einer geführten Slum-Tour anschließen soll. Doch zwei Dinge haben mich letztlich dazu bewegt, mich dafür zu entscheiden:

1. Reality Tours betreibt mit Reality Gives eine wirklich gute NGO, und ein Großteil des eingenommenen Geldes geht direkt in ihre Projekte im Slum.

2. In Indien wird ein Slum anders definiert. Es ist nicht per se ein Wohnort für arme Leute, sondern besagt lediglich, dass Menschen illegal auf Flächen wohnen, die der Stadt gehören.

Und noch zwei Dinge vorweg:

1. Man sagt, dass von allem, was man über Indien behauptet, auch das Gegenteil wahr ist. Das sollte man auch bei diesem Text stets im Hinterkopf behalten. Hinzu kommt, dass man nur einen Bruchteil dessen, was man hier an Eindrücken vorgesetzt bekommt, aufnehmen kann.

2. Es ist nicht erlaubt, auf der Tour zu fotografieren, was ich völlig adäquat finde. Reality Tours hat mir jedoch freundlicherweise Fotos zur Verfügung gestellt. Danke an dieser Stelle!

Und nun die Fakten:

Erstaunliche 55% aller Mumbaikars leben in den mehr als 200 Slums der Stadt. Dharavi, von vielen Quellen als der weitläufigste Slum ganz Asiens eingestuft, ist halb so groß wie der Central Park und wird von etwa 1,1 Millionen Menschen bewohnt. Er ist etwa 170 Jahre alt und auf einem ehemaligen Sumpf erbaut. Mit in ihm hergestellten Produkten im Wert von jährlich 650 Millionen Dollar ist Dharavi Mumbais produktivster Slum. Dharavi ist wie eine Stadt innerhalb der Stadt, eine Art kondensiertes Mumbai. Ist die indische Metropole mit ihren mehr als 20 Millionen Menschen schon eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde, so ist die Bevölkerungsdichte in Dharavi noch einmal um das 20-fache höher. Es gibt in Dharavi Hütten und Häuser, Geschäfte und Tankstellen, Straßen und Krankenhäuser, öffentliche und private Schulen, Fabriken und Werkstätten. Es leben hier eine Menge verhältnismäßig wohlhabender Leute. Tatsächlich ist das Leben in Dharavi vergleichsweise dermaßen ‚teuer‘, dass viele Menschen es sich nicht leisten können. Das wären dann etwa die rund 100.000 Menschen, die stattdessen ohne Behausung in den Straßen Mumbais leben.

Vor einigen Jahren gab es ein umstrittenes Projekt der Stadt: Es wurden Konzessionen an Bauunternehmen vergeben, die dann mindestens 70 Prozent der Bewohner eines von ihnen auserwählten Fleckens davon überzeugen mussten, in Wohnblocks umzusiedeln. Stimmten diese zu, so errichtete der Unternehmer zwei große Häuser, und zwar komplett auf eigene Kosten. In eines durften dann die ehemaligen Bewohner des Viertels ziehen – ohne dafür zu zahlen. Die Wohnungen des anderen verkaufte der Bauunternehmer teuer. So kommt es, dass man mitten im Slum auch mehrere große Wohnblocks sieht. Diese Regelung polarisierte damals, erledigte sich jedoch schon bald, als Zuwanderern, die erst kürzlich nach Mumbai gezogen waren, kein Recht auf Wohnfläche mehr eingeräumt wurde. Da dies in vielen Gegenden des Slums die Mehrheit ist, ließ sich auch die 70%-Hürde nicht mehr nehmen.

Und nach all diesen Fakten, hier nun meine, selbstverständlich völlig subjektiven,

Impressionen des zweistündigen Rundgangs mit Reality Tours:

Plastic recycling on a Dharavi rooftop - Andreas Grosse-Halbuer
Plastic recycling on a Dharavi rooftop – Andreas Grosse-Halbuer

Wir steigen auf einer stark befahrenen Straße aus dem Tata Sumo Geländewagen. Direkt neben der Fahrbahn schwelt eine Müllhalde. Man kann durch den Rauch kaum atmen, geschweige denn die heranrasenden Autos sehen.

Wir betreten Dharavi durch eine enge Gasse zwischen zwei Bruchbuden. Die Betonplatten liegen nur lose auf der Rinne für das Abwasser. Neben der Rinne kauert ein alter Mann, der mit Zement Löcher in der Wand ausbessert. Hastig laufen uns Menschen entgegen, die schwere Lasten auf dem Kopf tragen. Überall sehen wir Geschäftigkeit, alle scheinen an etwas zu arbeiten. Jeder, der uns erblickt, schenkt uns ein Lächeln oder zumindest ein Wackeln mit dem Kopf.

Ragpicker carrying recycled bags - Cory Goldberg
Ragpicker carrying recycled bags – Cory Goldberg

In jeder der meist provisorischen Hütten befindet sich eine Werkstatt für ein anderes Produkt. Die erste stellt Batiktücher her. Mit Hilfe von Wachs erschafft man beim Färben die altbekannten Muster. Direkt dahinter stapeln sich Berge alter Computer und Fernseher, die von Lumpensammlern aus der ganzen Stadt hierher getragen wurden. Das Plastik wird hier gewaschen, zerkleinert, eingeschmolzen und dann wiederverwendet. Um uns herum nur noch Staub und Rauch, man bekommt kaum mehr Luft.

Im nächsten Haus recycelt man Aluminium. Mit giftigen Substanzen, ohne Schutzkleidung oder Atemmaske. Wo niemand werkelt, stehen Haufen voller Material: Fässer, Boxen, sortierter Müll. Überall wuselt es. Die Fabrikbesitzer zahlen für ihre Produktionsstätten keine Miete. Die Arbeiter sind größtenteils Migranten, die hier zehn Monate lang für ihre Familien schuften, um danach wieder zurück aufs Land zu ziehen. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht. Man schläft auch in den Fabriken, und bekommt für sein Martyrium pro Tag im Schnitt 200 Rupees (2,50 Euro). Niemand weiß, ob die Arbeiter von den Chemikalien und dem Rauch krank werden. Bevor sich das zeigen kann, sind sie längst wieder in ihrer Heimat. Sie tauchen in keiner Statistik auf.

13th compound in Dharavi, the recycling area - Andreas Grosse-Halbuer
13th compound in Dharavi, the recycling area – Andreas Grosse-Halbuer

Der Rauch beißt tief hinten im Rachen. Neben dem kleinen Pfad voller Müll gurgeln die Abwässer. Tatsächlich hat die Regierung diese Rinnen im illegal besiedelten Gebiet gebaut. Einer von tausenden von Widersprüchen, denen man in Indien täglich begegnet.

Dann kommen die Pappe-Recycler. Eine Ziege frisst genüsslich am Rohmaterial. Dahinter zerreißen Leute, auf dem Boden kauernd, mit der Hand Kartons in Stücke. Alles passiert auf engstem Raum. Die rauchgeschwängerte Luft ist voller Fliegen. Der Gestank nimmt sekündlich neue Formen an.

Cardboard Recycling in Dharavi - Tom Parker
Cardboard Recycling in Dharavi – Tom Parker

Wir passieren einen Fluss, der fast schwarz von Kloake, und zur Hälfte mit Müll bedeckt ist. Am Wegesrand stehen Berge von Dingen. Schwer zu sagen, was genau. Zur Rechten eine Näherei. Direkt daneben spielt ein junger Mann mit seinem Smartphone. Ein Greis verjagt eine Ziege, die sich anschickt, an den Kräutern zu naschen, die er feilbietet.

Wir gelangen aus dem Produktionsviertel in ein Wohnviertel. Es ist moslemisch. Nach der Teilung Indiens und der Entstehung Pakistans haben sich die Religionsgemeinschaften vielerorts auf jeweilige Viertel verteilt. Sie leben jedoch zumeist in friedlicher Nachbarschaft.

Zur Linken eine große Bäckerei. Hier wird Khari hergestellt, ein knuspriges Brot, das man morgens in seinen klebrig-süßen Masala Chai tunkt. Im nächsten Gebäude nähen Menschen Sporttaschen zusammen. Direkt dahinter eine Seifenfabrik, vor der Tür schläft ein Huhn.

Wir biegen nun in winzige Gassen, in denen man den Kopf einziehen muss. Es passt immer nur ein Mensch zwischen die eng beieinander stehenden Wände. Der ‚Gegenverkehr‘ wartet in Hauseingängen. Kaum ein Lichtstrahl dringt in die Gassen, in denen die Luft muffig steht. Steile Treppen führen in offene Wohnungen. Dann ein kleiner Laden in einer winzigen Nische. Ich blicke in das erste Gesicht, das nicht erfreut scheint, uns hier zu sehen. Überall toben Kinder.

Dharavi Kids' smiles - Andreas Grosse-Halbuer
Dharavi Kids‘ smiles – Andreas Grosse-Halbuer

Wir erreichen einen offenen Platz. Zur einen Seite eine Müllhalde, neben der vergnügt die Kinder spielen und dabei aussehen wie aus dem Ei gepellt. Zur anderen Seite eine Gemeinschaftstoilette, nicht größer als ein Bungalow. Mehr als 1400 Menschen benutzen diese Toilette – täglich.

Bunte Papierfahnen mit Stern und Halbmond flattern zwischen den Gebäuden. Wir passieren eine Lederverarbeitung, nebenan wird gerade ein älterer Herr auf einem Plastikstuhl rasiert. Aus Ziegenleder zaubert man hier mit Hilfe von Metallstempeln vermeintliches  Krokodilleder. Neben der Tür liegt ein auffallend sauberer Hund mit Halsband. Er frisst Kekse.

Dann: Breitere Wege, teils befestigt. Fast wie ein gemütliches Dorf. Ein kleiner Tempel auf einer Hausecke. Autos, Mopeds, Lastenkarren. Kinder spielen und rufen uns statt eines ‚Hello‘ ein ‚Goodbye‘ zu. Ein Zeichen? Hinter der nächsten Kurve dann eine stinknormale indische Straße mit Ständen, Supermarkt, Spielzeugladen und Bankautomat. Und etwa 1000 anderen Dingen. Indische Straße eben. Uns passiert ein Mann, der eine große Tonne auf dem Kopf balanciert. In die entgegengesetzte Richtung laufen Frauen in schwarzen Burkas mit schmalen Sehschlitzen. Samosas brutzeln in Töpfen voller Öl. In einen Baum hat man ein weißes Baumhaus gezimmert, in dem ein paar Tauben auf einer Stange sitzen. „White House for white birds“, sagt unser Guide Suraj. Macht Sinn.

Goat with admirers - Tom Parker
Goat with admirers – Tom Parker

Vor uns wird ein Fahrradfahrer von einem Auto touchiert und fällt mitsamt seiner Fracht um. Er schimpft kurz in Richtung des Fahrers, dann helfen ihm andere Männer wieder auf. Auch hier wird überall genäht, gewaschen, geschleift, gehämmert, sortiert. Dazwischen zieht man Schafen und Ziegen die Häute ab und wäscht sie vor den Türen. Der Geruch ist brechreizerregend. Zwischen den Häuten spielen die Kinder Cricket.

Wieder eine Gasse. Hinter jeder Biegung eine neue Überraschung. Da sitzt ein Kind an einem Spielautomat aus den 80ern. Und: Er funktioniert! Hinter der nächsten Ecke spielen die Jüngsten mit Murmeln im Staub.

Wir bekommen einen Blick in ein Haus gewährt, angeblich das Haus von Surajs Tante. Zehn Quadratmeter für fünf Leute. Der Wohnraum beginnt unmittelbar hinter der Türschwelle und endet in einer Art Hochbett. Auf dem Boden halten ein paar Menschen ein Schläfchen.

Wieder draußen. Katzen dösen auf erhöhten Posten. Kinder schneiden einander Grimassen und spielen Fangen.

Wir erreichen das Community Center von Reality Gives. Man unterrichtet hier Englisch, Computerfähigkeiten und soft skills. Da niemand dauerhaft zu kostenlosen Kursen erscheint, verlangt die Organisation für die Kurse Geld. Nimmt man an mehr als 90% der dreieinhalb Monate teil, wird der gesamte Betrag erstattet. An mehreren Tagen in der Woche geben Ernährungsberater jungen Müttern Tipps. Denn viele Kinder unter sechs Jahren sind hier unterernährt. Es gibt zudem Kooperationen mit anderen NGOs.

Neben dem Center trocknen Papadams auf überdimensionalen Strohhüten. Daneben parken Royal Enfield Motorräder. Wir befinden uns nun im Hindu-Viertel. Vor uns ein Tempel zu Ehren Sai Babas, natürlich festlich geschmückt. Daneben kämmt eine bildhübsche junge Frau ihr nasses Haar. Von der anderen Seite lächelt eine zahnlose Oma übers ganze Gesicht.

Embroidery factory - Cory Goldberg
Embroidery factory – Cory Goldberg

„This is Jim!“, werde ich von der Seite angesprochen und erwarte, jemandem vorgestellt zu werden. Doch das habe ich falsch verstanden. Was der Junge mit dem beeindruckenden Bizeps wirklich sagen wollte, war: „This is gym!“ Ich blicke unter einem Metallrollo durch. Stimmt. Ein komplett eingerichtetes Fitnessstudio, an dem sich einige Männer verausgaben!

Poster mit meinem Favoriten unter den 2000 Hindu-Göttern, dem elefantenköpfigen Ganesha. Wahlplakate. Lampions. Auf dem Hof einer Mädchenschule spielt man in Uniform Ball. Eine Riksha ohne Auspuff knattert an mir vorbei. Ein Mann steht auf einem Bambusgerüst, das nur mit Hanfseilen fixiert ist, und streicht ein Gebäude. Alte Menschen sitzen im Schatten von Banyan-Bäumen und plaudern. Schreiend bunte Blumengirlanden ziehen meinen Blick auf sich und lenken mich ab. Ich werde fast von einem Fahrrad überfahren.

Wir betreten eine große, viel befahrene Straße. Und doch sind wir noch immer in Dharavi. Überall um uns herum nun noch mehr Stände. Die meisten Verkäufer bieten nur jeweils ein Gemüse an, die Holzkarren mit den Tomaten setzen visuell die kräftigsten Akzente. Hunde schlafen auf einem geparkten Anhänger.

Plastic recycling factory - crashing the plastic into little pieces - Cory Goldberg
Plastic recycling factory – crashing the plastic into little pieces – Cory Goldberg

Wir sind nun am Endpunkt der Tour angelangt, in Mumbais größter Töpferei. Diese ist traditionell die Domäne der Gujaratis und Rajastanis. Tontöpfe, wohin man auch blickt. Auf dem Boden arbeiten Frauen mit dem nassen, rotbraunen Werkstoff. In großen Gruben glimmen Berge von Baumwollabfällen, in denen die Gefäße gebrannt werden.

Die Tour endet, wie sie begonnen hat: In dichtem, schwarzem Rauch. Eine Taube kackt mir knapp am Kopf vorbei. Zeit für eine Pause.

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7 Kommentare

  • Find ich gut, dass Du Dir keine Gewissensbisse hast machen lassen. Die indische Definition eines Slums ist wirklich anders als man das erwartet. Ich war vor 2 Jahren auf eigene Faust im Dharavi Slum, ganz einfach mit der Metro. Ich stand schon mitten im Slum und habe die Leute noch gefragt wo ich denn hin muss um den Slum zu finden. Es war einfach ganz normal Indien, kein Slum. Das soll nicht heißen, dass die Leute nicht arm sind, aber es ist echt kein Unterschied zu anderen Orten in Indien.

  • Mir ist vor zwei Jahren genau das gleiche wie Florian passiert. Sobald man ein bisschen von der „Route“ abkommt und Städte wirklich zu erkunden versucht geht das ganz schnell. Ich bin allerdings sehr froh darüber, dass Fotografieren nicht gestattet war. Manchmal denken Reisende nämlich nicht nach und machen lieber eindrucksvolle Fotos als die Gefühle der Menschen zu respektieren.
    Schöner Blog!!

    LG Mira

    • Danke Dir, Mira! Und was das Fotografieren angeht, bin ich komplett Deiner Meinung. Die Gefühle der Menschen sind jedem noch so guten Foto vorzuziehen!

  • Hey Marco,

    tolle Eindrücke. Ich war auch in Dharavi, allerdings nur in Randbezirken und ohne Tour. Möchte das definitiv mal nachholen, vielleicht in Manila. Es ist echt wichtig, so was mal gesehen zu haben, damit man sich DANN eine Meinung bildet. Und wenn man eine (vorausgesetzt gute, wie hier) Organisation an der Seite hat, umso besser.

    Grüße,
    Anika

    • Danke, Anika! Und genau deshalb habe ich es gemacht: Um mir selbst ein Urteil zu bilden. Und das ist dann tatsächlich anders ausgefallen als erwartet.
      Erzähl‘ mir dann von Manila, bitte!
      Viele Grüße! Marco

  • Genau die Tour habe ich vor 3 Jahren auch mit Reality Gives gemacht. Am intensivsten sind mir der beissende Dampf in den Werkstätten in Erinnerung und mein Erstaunen darüber, in welcher „kleinstädtischen Normalität“ die Menschen dort leben. Ich denke, darum geht es auch Reality Gives ganz wesentlich: zu zeigen, dass in einem sogenannten Slum niemand in Agonie vor sich hin vegetiert, sondern dass sich die Menschen dort etwas aufbauen, Arbeit schaffen, zum Teil ganz normale Jobs ausserhalb des Slums haben und auch leben. Was man in Bezug auf Mumbai natürlich nicht übersehen darf ist, dass ein Dach über dem Kopf in Dharavi fast schon so etwas wie ein Aufstieg ist. Dem großen Heer der ganz Armen bleibt nur ein Stück Pappe auf der nächtlichen Straße.
    LG, Claudia

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